“Krieg ohne Ende” – Interview mit Peter Jaeggi

Der freischaffende Journalist, Fotograf und Filmemacher Peter Jaeggi widmet sich seit langem der Erforschung der Auswirkungen von Katastrophen. In seinem neuesten Buch mit dem Namen ‘Krieg ohne Ende’ befasst er sich mit den Spätfolgen des Einsatzes des hochgiftigen Herbizids ‘Agent Orange’ während des Vietnamkrieges. Peter Jaeggis Arbeit trägt dazu bei, das Bewusstsein für die langfristigen Folgen zu schärfen. Ein Beitrag, dass die betroffenen Menschen nicht vergessen werden.

Im Interview mit Green Cross Switzerland gibt Peter Jaeggi Einblicke in sein neuestes Buch, das sich durch eine intensive Vor-Ort-Recherche auszeichnet.

Wie sind Sie zum Thema dieses Buch gekommen und weshalb war es für Sie persönlich ein Anliegen?
Alles begann mit Roland Wiederkehr. Ich kannte den damaligen Nationalrat und Gründer des Green Cross bereits vor dessen Anfangszeiten, als er der erste Geschäftsführer des WWF Schweiz war. Ende der Neunzigerjahre lud mich Roland Wiederkehr im Namen des Grünen Kreuzes nach Belarus ein, um die Spätfolgen der Tschernobyl-Katastrophe zu dokumentieren. Belarus wurde am stärksten vom Super-GAU getroffen. Green Cross führte mich schliesslich auch nach Vietnam, um zu den Spätfolgen des Vietnamkrieges zu recherchieren. Im Jahr 2000 erschien mein erstes Buch dazu, mit dem Titel «Als mein Kind geboren wurde, war ich sehr traurig». Dieses zweite journalistische Langzeitprojekt begleitet mich bis heute. Das neue Buch «Krieg ohne Ende» ist bereits das dritte zum Thema des Chemiewaffeneinsatzes von damals.

Für die Entstehung Ihres Buches haben Sie eine Vor-Ort-Recherche durchgeführt, die zahlreiche Gespräche mit den Betroffenen von Agent Orange beinhaltete. Gibt es eine Begegnung, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Sehr viele. Auf unserer ersten Recherchereise begegneten wir der jungen Mutter Phan Thi Cuc und ihren drei Kindern. Die beiden älteren wurden mit einem Körper geboren, dessen Anblick kaum erträglich war. Ich hatte vorher noch nie derartige Missbildungen bei einem Menschen gesehen. Der Vater kam im Krieg mit dem dioxinhaltigen Agent Orange in Kontakt. Dioxin schädigt das Erbgut. Er ertrug den Anblick seiner behinderten Kinder nicht und nahm sich das Leben – mit einem Pestizid. Die meisten Begegnungen mit Opfern und ihren Familien gehen unter die Haut. Viele Betroffene brauchen eine 24-Stunden-Betreuung. Die Eltern sind meist arm und müssen häufig ohne fremde Hilfe zu Rande kommen. Dies oft während Jahrzehnten, da die Kinder immer älter werden und es an geeigneten Heimen fehlt. 

Sie schreiben: «Ein Lexikon zeigt: Im Vietnamkrieg war die halbe Welt involviert.» Wie müssen wir uns diese Situation vorstellen?
Nur einige Beispiele: Die Schweiz lieferte Zeitzünder sowie Pilatus-Porter-Flugzeuge, mit denen Bomben abgeworfen wurden und die mit Maschinengewehren bestückt werden konnten. Neben Staatsangehörigen aus den USA waren auch Soldatinnen und Soldaten aus Australien, Neuseeland, Kanada und Südkorea an der Front in Vietnam. Die damalige DDR baute ein Luftverteidigungssystem auf, die Bundesrepublik Deutschland entsandte Tausende von Technikern, unter anderem jene, die auf Waffensysteme spezialisiert waren. Die japanische Insel Okinawa war im Vietnamkrieg die wichtigste Luftwaffenbasis der USA. Dort wurden mehr als tausend Atombomben, aber auch Nervengas und Agent Orange gelagert.

Das zentrale und notwendige Hauptthema ihres Buches sind die Opfer von Agent Orange. War es für Sie besonders wichtig, den Opfern eine Stimme zu geben, die ja ansonsten – unabhängig von Konflikten – schnell vergessen werden?
Katastrophen und Kriege hören mit dem Schweigen der Waffen nicht einfach auf. Am wenigsten für die Opfer. Wie das Beispiel Vietnam zeigt, können Kriege Mensch und Natur über Generationen hinweg schädigen. Die vietnamesische Opfervereinigung VAVA spricht heute bereits von der fünften Generation von Kindern, die Agent-Orange-geschädigt geboren werden. Es kann nicht gesagt werden, wie viele weitere Generationen noch betroffen sein werden. Es ist sehr wichtig, dass das Leiden der Opfer nicht vergessen und darüber informiert wird.

Wie schätzen Sie die derzeitige Situation der Betroffenen in Vietnam ein?
Ich habe Kriegsveteraninnen und -veteranen stets gefragt, was sie heute für die USA empfinden. Fast ausnahmslos kam als erste Antwort: «Was geschehen ist, ist geschehen. Man muss verdrängen, um weiterleben zu können, nach vorn schauen.» Doch ist es auch die Stimme des Herzens? In der traditionellen vietnamesischen Kultur trägt man Schmerz und Trauer nicht auf der Zunge. Spricht man länger mit Kriegsopfern, hört man oft die Enttäuschung darüber, dass sich Washington bis heute nie für diesen Krieg entschuldigt hat. Die USA helfen zwar seit Jahren, stark vergiftete Agent-Orange-Hotspots zu sanieren. Man investiert Hunderte von Millionen. Viele Betroffene beklagten sich aber in meinen Interviews darüber, dass dabei die Opfer zu kurz kommen und nicht genügend unterstützt werden.

Was denken Sie, ist heutzutage notwendig, um den Opfern der Katastrophe gerecht zu werden?
Es braucht mehr Geld, um betroffenen Familien ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Zum Beispiel Pflegepersonal, das überforderten Eltern hilft. Da ist zwingend auch mehr Engagement der USA gefragt – aber auch von Vietnam selbst. Es fehlen zudem zuverlässige Opferstatistiken. Diese wären wichtig für die Planung von Hilfestellungen. Wie kann man effizient helfen, wenn man gar nicht weiss, wie viele Opfer es tatsächlich gibt? – Der Chefarzt eines grossen Spitals beklagte sich im Interview über Ausbildungslücken bei Ärztinnen und Ärzten. So sei das Erkennen und rechtzeitige Behandeln von Geburtsfehlern sehr schwierig. Für die spätere Gesundheit betroffener Menschen sei eine professionelle Früherkennung jedoch zentral.

Sie sprechen in Ihrem Buch auch über betroffene Veteran:innen: Wie entwickelte sich die Situation für Militärangehörige (der USA)?
Man vergisst häufig, dass auch Hunderttausende von amerikanischen Vietnamkriegsveteranen und -veteraninnen Agent-Orange-geschädigt sind. In den USA muss ein Veteran keine Beweise erbringen, dass Agent Orange an seinem Leiden schuld ist. Es genügt der Nachweis, dass er oder sie im Vietnamkrieg war, und die medizinische Behandlung wird bezahlt. Von vietnamesischen Agent-Orange-Opfern hingegen fordern die USA einen Beweis – der nach strikten wissenschaftlichen Kriterien nicht zu erbringen ist. So kann zum Beispiel nicht ermittelt werden, welchen Anteil einer Vergiftung durch Agent Orange und wieviel von anderen Quellen verursacht worden ist. Das ist ein Hauptgrund, weshalb Washington und die US-Gerichte bis heute alle Forderungen nach Kompensation abgelehnt haben. Für das offizielle Amerika gibt es also zwei Klassen von Agent-Orange-Opfern: die eigenen, denen teilweise Agent-Orange-Krankheiten zugestanden werden, und die vietnamesischen, die Washington nicht als Giftopfer anerkennt. Der amerikanische Vietnamkriegsveteran Chuck Searcy sieht darin eine «kriminelle Doppelmoral». Searcy gehört zu jenen ehemaligen Soldaten, die in Vietnam geblieben sind und dort grossartige humanitäre Arbeit leisten. Er war u.a. Mitbegründer des «Project Renew», einer NGO, die Blindgänger aufspürt und entsorgt und so schon unzähligen Menschenleben rettete.

Auch gehen Sie auf die notwendige juristische Aufarbeitung ein, die jedoch oft einem Kampf «David gegen Goliath» gleicht. Fast alle Wiedergutmachungsklagen gegen die Herstellerfirmen von Agent Orange werden mit der Begründung abgewiesen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Agent Orange und Missbildungen nicht bewiesen werden kann. Besteht dennoch Hoffnung, die Klagen auch in Zukunft weiterzuführen?
Eine grosse Hoffnung steckt momentan in dem laufenden Gerichtsverfahren, das die Vietnam-Französin Tran To Nga in die Wege geleitet hatte. Die ehemalige «Vietcong» – so nannte man despektierlich Angehörige der südvietnamesischen Befreiungsfront  – verklagte 2014 die grössten Hersteller von Agent Orange auf Schadenersatz. In der ersten Instanz verlor Tran To Nga das Verfahren. Dieses wurde jahrelang mit teilweise abenteuerlichen Forderungen verschleppt. Das erstinstanzliche Gericht in Évry begründete 2021 das Urteil damit, dass Firmen, die im Auftrag des Staates gehandelt hätten, Immunität geniessen würden, sie also nicht angeklagt werden könnten. Die Anwälte der heute 82-jährigen zogen das Urteil weiter. Im kommenden Mai wird nun das höchste französische Berufungsgericht in Paris das wohl endgültige Urteil verkünden. – Warum findet der Prozess in Frankreich statt? Weil die französische Gesetzgebung eine Besonderheit kennt: In Frankreich können nämlich im Gegensatz zu anderen Ländern auch Einzelpersonen einen fremden Staat verklagen, wenn dieser einer Bürgerin, einem Bürger Schaden zufügt.

 Um die Gefahr von Agent-Orange zu mildern, ist eine Dekontamination der Böden bei Dioxin-Hotspots wichtig. Die USA engagiert sich hierbei mit Millionenbeträgen. Allerdings wird die angewandte Methode zur Sanierung von einigen Expert:innen als nicht optimal eingestuft. Können Sie dies näher erläutern?
2018 wurde auf dem ehemaligen US-Luftwaffenstützpunkt und Agent-Orange-Umschlagplatz Da Nang eine rund 110 Millionen teure Sanierung beendet. Laut offiziellen Angaben wurde die dioxinverseuchte Erde auf 360 Grad erhitzt und so das Gift in unschädliche Bestandteile umgebaut. Dabei entwich ein Teil der dioxinhaltigen Abgase in die Luft und vergiftete die Umgebung erneut. Niemand weiss, welche Giftmengen entwichen. – Derzeit läuft etwa 500 Kilometer weiter südlich, in Bien Hoa, die bisher grösste Hotspot-Entgiftungsaktion. Mit dem gleichen Verfahren. Lorenz Adrian vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig, der seit Jahrzehnten an vorderster Front der Dioxinforschung tätig ist, kritisiert das Verfahren scharf, das in Da Nang und jetzt wieder in Bien Hoa angewendet wird. Eine vollständige Vernichtung des Dioxins sei mit dem Hitzeverfahren nämlich gar nicht möglich. Er schlug der vietnamesischen Regierung eine auf den ersten Blick verblüffende und seiner Meinung nach sichere Lösung vor: Mit Hilfe von speziellen Bakterien können selbst hochgefährliche Giftstoffe im Boden biologisch garantiert unschädlich gemacht werden. Diese Methode könne selbst in überbauten Gebieten helfen. Es brauche eigentlich nur eine Bohrung, dann Bakterien rein – und abwarten. Es dauere zwar viele Jahre, bis das Dioxin abgebaut sei, dafür aber sei das Prozedere sicher und um ein Vielfaches billiger als die Hitzemethode.

 Was haben Sie persönlich aus Ihrer langjährigen Auseinandersetzung mit diesem Thema gelernt, vor allem auch im Hinblick auf andere globale Krisenherde?
Ich antworte mit einer Gegenfrage. Angesichts von Kriegskatastrophen wie in Vietnam, nach Kriegen der Neu- und Jetztzeit scheint der Ruf «Nie wieder Krieg!» das Selbstverständlichste, das Logischste und das absolut Zwingendste und Humanste der Welt zu sein. Aber weshalb funktioniert es nicht? Weshalb immer wieder Krieg? Könnte ein Teil der Antwort auch in mangelnder Bildung liegen? Ich komme deshalb darauf, weil kürzlich darüber berichtet wurde, wie einige Schweizer Schüler Hitler als kultigen Star begreifen. Unglaublich!

 

Die Agent-Orange Fotos zu den Arbeiten von Peter Jaeggi realisiert seit 1999 der preisgekrönte Basler Fotograf Roland Schmid https://www.schmidroland.ch/

Sie können das Buch ‘Krieg ohne Ende’ über den folgenden Link bestellen. Mit dem Vermerk ‘Green Cross’ werden bei jedem Kauf eines Exemplars 5 Franken für Hilfsprojekte in Vietnam gespendet.

Please follow and like us:
Rate this post

Greencross Switzerland