Nuklearkatastrophe von Tschernobyl und Kyschtym

Am 26. April 1986, um 01:23 Uhr, wurde im Reaktor-Block 4 des Atomkraftwerks von Tschernobyl aufgrund eines Reaktorunfalls radioaktives Material freigesetzt. Ein Tag darauf wurde die nahegelegene Stadt Pryp’yat mit den knapp 50’000 Einwohner:innen evakuiert. Um die Katastrophe einzudämmen, wurden sogenannte «Liquidatoren» (über die Zeit zwischen 600’000 bis 800’000) ins Gebiet geschickt, welche die radioaktive Strahlung «liquidieren» sollten; Bedeckung des Reaktors mit Schutt oder Ausschüttung von unterschiedlichen Materialien aus Militärhelikoptern in den Reaktor (z.B. Bleibarren, welche die Gammastrahlung mindern sollten) gehörten zu ihren Aufgaben. Zudem wurde, um die Strahlenbelastung zu reduzieren, eine Schutzhülle gebaut. Die Hülle wurde 2016 erneuert.

Der Unfall, welchen die sowjetische Regierung zuerst verheimlichen wollte und der das Misstrauen in die sowjetische Regierung beförderte, gelangte schnell an eine breite Weltöffentlichkeit. Zwischen 40 und 185 Millionen Curies an Radionukliden (radioaktive Formen von chemischen Elementen) gelangten in die Atmosphäre; dies ist vergleichsweise um ein Vielfaches höher als die Radioaktivität, die durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki in Japan verursacht wurde. Das freigelassene Material gelangte bis nach Westeuropa, kontaminierte aber die umliegenden Regionen mit Abstand am stärksten. Millionen Hektar an Wald und Ackerfläche in Belarus, Russland und der Ukraine wurden verseucht.

Trotz zeitnaher Evakuierung blieben Hunderttausende in den kontaminierten Gebieten. Viele Tiere und Menschen wurden deshalb missgebildet geboren.2 Weitere Folgeschäden für den Menschen waren erhöhtes Krebsrisiko und chronische Erkrankungen wie z.B. Diabetes. Zusätzlich zeigten sich zahlreiche psychosoziale und neuropsychologische Begleiterscheinungen, diese treten nach grossen Katastrophen häufig auf, wie z.B.: Psychische Störungen oder Alkoholmissbrauch. Bis heute leiden Mensch und Umwelt in Gebieten des heutigen Belarus, Russlands und der Ukraine an den Folgen dieser Katastrophe. Neben den negativen Auswirkungen auf die Gesundheit durch die freigesetzte Radioaktivität, führte der Reaktorunfall auch zu sozialer und wirtschaftlicher Verwahrlosung in den Regionen.

Während die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl beinahe 40 Jahre zurückliegt, hat auch die Arbeit von Green Cross Switzerland in der betroffenen Region eine fast dreissigjährige Geschichte. Neun Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 etablierte die Stiftung im Rahmen des von ihrem gegründeten SOCMED-Programm (Social and Medical Care and Education) erste Therapiecamps für Jugendliche und Kinder in betroffenen Regionen. Das Programm verfolgte das Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung längerfristig zu verbessern und gleichzeitig Weiterbildungs- und Informationsangebote für Pflegefachpersonen, aber auch für Betroffene bereitzustellen. In den Therapiecamps wurden vor allem Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen durch Ärzt:innen, Therapeut:innen, Lehrer:innen und Pädagog:innen betreut und unterrichtet. Neben der Untersuchung der Kinder und Jugendlichen durch das medizinische Fachpersonal und der Möglichkeit zu sauberem Nahrungsmittel, wurden auch soziale Aktivitäten organisiert, um die Kreativität, das ökologische Bewusstsein und das Gemeinschaftsgefühl zu fördern.

Die Arbeit wurde über die Jahre fortgesetzt und weiter ausgebaut; nach der Etablierung der Camps 1995 in Belarus, folgte 1998 die Unterstützung betroffener Gebiete im heutigen Russland und ab 2000 in der Ukraine. Neben diesen und weiteren Angeboten hat Green Cross Switzerland Kooperationen und Partnerschaften mit Akteur:innen aus der Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Forschung ins Leben gerufen. Vor allem für das Fundament der Arbeit von Green Cross Switzerland war ein wissenschaftlicher Zugang unerlässlich. Praktisch äusserte sich dieser Zugang in der Kooperation mit verschiedenen Forschungsinstituten und Fachexpert:innen aus Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Es ist eine Absicht von Green Cross Switzerland, diese Studien und Berichte zur Katastrophe von Tschernobyl einer interessierten Bevölkerung zugänglich zu machen. Im Folgenden können Sie einige Studien und Berichte kostenfrei herunterladen.

Green Cross Switzerland hat in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Jonathan M. Samet, Direktor des Instituts für Globale Gesundheit an der University of Southern California (USC) den ersten umfassenden Report über die Kosten der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 2016 präsentiert. Der vorliegende Bericht gibt eine Übersicht der finanziellen Kosten der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in den letzten 30 Jahren.

Ähnliche Forschungsschwerpunkte hatten die beiden Studien zu den gesundheitlichen Folgen von Betroffenen der Katastrophe. In den Studien wurde mit der Unterstützung von Green Cross Switzerland und unter der Leitung von Prof. Dr. Jonathan Samet die unterschiedlichen physischen und psychischen Beeinträchtigungen, die durch die Nuklearkatastrophe auftraten, aufgezeigt und eingeordnet.

Die Nuklearkatastrophe von Kyschtym

Eine weitere Nuklearkatastrophe hatte sich am 29. September 1957 in der Nähe von Kyschtym, in der Oblast Tscheljabinsk (UdSSR, heutiges Russland) in der Plutoniumsaufbereitungsanlage (besser bekannt unter den Namen «Majak» oder «Tscheljabinsk-40») ereignet. Bis 1989 weigerte sich die sowjetische Regierung, das Ereignis anzuerkennen, obwohl etwa 23.000 km2 Land kontaminiert waren, mehr als 10.000 Menschen evakuiert wurden und wahrscheinlich Hunderte an den Folgen der Radioaktivität starben. Die geheime Anlage war Ende der 40er Jahren gebaut worden, um Nuklearwaffen zu entwickeln. Durch den überhasteten Bau der Anlage und die noch relativ neuen Technologien, war sie anfällig auf Schäden und dern Umgang mit den Technologien. Entsprechend konnte ein defektes Kühlsystem in einem unterirdischen Tank, in welchem flüssige Reaktorabfälle gelagert wurden, nicht repariert werden und die Explosion setzte nukleares Material frei. Das freigesetzte Material trieb durch eine Region mit Hunderttausenden Einwohner:innen und in den darauffolgenden Monaten füllten sich die Spitäler mit Betroffenen der Katastrophe. Eine wesentlich erhöhte Anzahl an Krebserkrankungen und Missbildungen waren die Folge. Zusätzlich hatte die Katastrophe neuropsychologische und psychosoziale Konsequenzen. Nachdem Einzelheiten zum Ereignis bekannt wurden, stufte die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) die Nuklearkatastrophe als einen Unfall der Stufe 6 auf der internationalen Skala für nukleare und radiologische Ereignisse ein. Nur die nachfolgenden Nuklearkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima wurden auf der siebten und damit höchsten Schweregradstufe eingestuft.

Als eine menschgemachte Katastrophe begann Green Cross Switzerland vor allem die Bevölkerung, die entlang des Flusses Tetschas wohnt, im Rahmen des SOCMED-Programms zu unterstützen. Zentraler Bestandteil war die Untersuchung von Kindern, Angebote zur Selbsthilfe, Kooperativen usw. Zudem wurden Pilotprojekte wie z.B. die Förderung von Solarenergie 2021 gestartet, welche die Ausstattung einer Dorfschule oder ein Landwirtschaftsfamilienbetrieb mit Strom garantierte. Aufgrund des Krieges in der Ukraine wurden die Projekte jedoch sistiert.

Neue Krisenherde: Fukushima

Die schwerwiegendste Nuklearkatastrophe nach Tschernobyl ereignete sich im Kernkraftwerk von Fukushima, 250 Kilometer nördlich von Tokio gelegen. Zentraler Auslöser waren von einem Tsunami verursachte Wellen, die durch das Erdbeben vom 11. März 2011 begleitet wurden. Zwischen dem 12. und 15. März ereigneten sich mehrere Explosionen im Atomkraftwerk und in der Folge musste eine Sicherheitszone um die Anlage ausgerufen werden. An die 50’000 Einwohner mussten das Gebiet verlassen. Es führte auch zu einer erhöhten Radioaktivität in lokalen Nahrungsmitteln und Wasserversorgung. Da das Kernkraftwerk am Meer lag, musste das kontaminierte Salzwasser so gut es ging aufbereitet werden.6 Die Langzeitfolgen der Katastrophe sind schwer einzuschätzen. Es steht auch hier indes fest, dass das Meerwasser, aber auch die umliegend produzierten Nahrungsmittel hohe radioaktive Werte aufweisen. An die 150’000 Menschen können nicht in ihr Zuhause zurückkehren und es wird geschätzt, dass strahlenbedingt an die 10’000 an Krebs erkranken werden. Green Cross Switzerland hat in Kooperation mit Prof. Dr. Jonathan M. Samet, Direktor des Instituts für Globale Gesundheit an der University of Southern California (USC), einen Bericht veröffentlicht, welcher der Frage nachgeht, wie viele Menschen von der Katastrophe betroffen sind und welche Langzeitfolgen der Unfall haben könnte.

Weiterführende Informationen zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, Majak (Kyschtym) und Fukushima

 

Die Atomkatastrophe von Tschernobyl. 26. April 1986

Chernobyl disaster

Chernobyl Accident 1986

Einfluss der Katastrophe auf die Schweiz

Kyshtym disaster

11. März 2011. Reaktorkatastrophe in Fukushima-Daiichi

Tschernobyl und die Folgen

 

Literaturhinweise

 

Alexijewitsch, Swetlana: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, Berlin 2019.

Colmas, Florian; Stalpers, Judith: Fukushima. Vom Erdbeben zur atomaren Katastrophe, 2011.

Lochbaum, David; Lyman, Edwin; Stranahan, Susan Q. et. al.: Fukushima. The Story of a Nuclear Disaster, 2015.

Plokhy, Serhii: Chernobyl: The History of a Nuclear Catastrophe, 2018.

Plokhy, Serhii: From Bikini Atoll to Fukushima, London 2022.