World Mental Health Day
Heute, am 10. Oktober, begehen wir den 34. Welttag für psychische Gesundheit («World Mental Health Day»). Dieser Welttag wurde erstmals 1992 auf Initiative des Weltverbandes für psychische Gesundheit («World Federation for Mental Health») organisiert, einer globalen Organisation mit Mitgliedern und Kontakten in mehr als 150 Ländern.
Für Green Cross Switzerland (GCCH) ist dies ein Anlass, um auf die dramatische internationale Situation der psychischen Gesundheit und auf unser Engagement in diesem Bereich aufmerksam zu machen. Es ist davon auszugehen, dass sich die seelische Verfassung der Menschheit in den letzten Jahren insgesamt nicht verbessert oder sogar verschlechtert hat. Die Gründe dafür sind vielfältig. Hervorzuheben ist der schmerzliche Umstand, dass junge Menschen besonders stark von psychischen Leiden betroffen sind: Gemäss UNICEF haben die Auswirkungen von Krieg und Gewalt auf Kinder weltweit ein noch nie dagewesenes Ausmass erreicht.
Gerade in den weniger wohlhabenden Ländern und Regionen, wo Organisationen wie GCCH aktiv sind, hoffen unzählige Millionen Menschen, die auf psychologische Unterstützung angewiesen wären, vergeblich auf Hilfe. Einer der Treiber der psychischen Belastung sind die vielen menschengemachten Katastrophen – ob aktuelle Ereignisse wie der Ukrainekrieg oder länger zurückliegende wie der schwere Reaktorunfall von Tschernobyl (1986) und der Vietnamkrieg (1955-75). Leider haben auch die letztgenannten Ereignisse Jahrzehnte später noch brandaktuelle und sehr gravierende Spätfolgen. GCCH leistet einen möglichst grossen Beitrag zu ihrer Bewältigung.
Unser psychologisches Unterstützungsprogramm in der Ukraine wurde Anfang 2024 lanciert. Es ist auf Dauer angelegt und wird stetig ausgebaut. Aktuell (Stand: Oktober 2025) werden bereits über 1000 Personen an vier verschiedenen Standorten betreut. Dabei handelt es sich mehrheitlich um Kinder und Jugendliche – entsprechend der Erkenntnis, dass sie besonders anfällig für die psychischen Belastungen und Traumata sind, welche die Kriegsgräuel mit sich bringen.
Wie dringend Unterstützung gebraucht wird und was sie für die Betroffenen bewirken kann, möchten wir anhand von ein paar Beispielen verdeutlichen:
- Cherson: Ein achtjähriger Junge, der psychologische Unterstützung erhielt, begann ohne erkennbaren Grund zu weinen, beim Spielen oder während einer Therapiesitzung. Auf die Frage „Was ist los?“ antwortete er: „Wir werden alle sterben, sie bringen uns um.“ Dann wurde in einem geschützten Rahmen einzeln mit ihm gearbeitet. Er lernte, sich mit seinen Ängsten auseinanderzusetzen. Langsam liess die Angst nach. Der Junge begann zu lächeln und reagiert nun gelassener auf laute Geräusche.
- Nowhoord-Siwerskyj: Die 62-jährige Tatiana suchte Hilfe bei unserer Psychologin. Vor einem halben Jahr war ihr Schwiegersohn im Krieg ums Leben gekommen, und sie wusste nicht, wie sie ihrer Tochter und ihrem 5-jährigen Enkel helfen sollte, diesen Verlust zu verkraften. Dank der psychologischen Begleitung gelang es Tatiana, die Trauer ihrer Tochter und ihres Enkels zuzulassen und ihnen Raum dafür geben. Sie lernte, das Gespräch über den Verstorbenen zu suchen, ihre Angst davor abzulegen und Erinnerungsrituale zu schaffen. Auch die Tochter wurde von der Psychologin begleitet. Die Angehörigen lernten so Schritt für Schritt, den Verlust besser zu verarbeiten und in Liebe dem Verstorbenen zu gedenken.
- Tschernihiw: Ein fünfjähriges Mädchen musste mit ihrem Bruder und ihrer Mutter ihr Zuhause verlassen. Im neuen Kindergarten wollte sie anfangs nicht sprechen, verweigerte Spiele und Essen. Sie vermisste ihren Vater sehr, der in der alten Heimat geblieben war. Nur langsam, mit der Unterstützung von Erwachsenen, einer Psychologin und neuen Freundinnen, begann sie wieder zu lachen und gewann Lebensfreude zurück. Jetzt besucht sie die Gruppensitzungen mit Begeisterung, ist kommunikativer geworden und lernt durch kreative Aufgaben, mit ihren Emotionen umzugehen.
Weitere Informationen zum psychologischen Unterstützungsprogramm in der Ukraine finden Sie hier.
In der vietnamesischen Provinz Quang Tri stehen wir Menschen mit Behinderungen bzw. «Persons with disabilities» oder kurz PWDs bei. Die Behinderungen dieser Menschen sind auf Agent Orange und andere Spätfolgen des Vietnamkriegs wie z.B. nicht explodierte Bomben und Minen in den Böden zurückzuführen. In Quang Tri sind diese Spätfolgen besonders stark präsent. Aufgrund von physischen, psychologischen und sozialen Faktoren sind die betroffenen Menschen einem höheren Risiko für psychische Leiden ausgesetzt. Tragischerweise haben sie gleichzeitig oft einen schlechteren Zugang zu psychologischer Unterstützung als andere Bevölkerungsgruppen.
All diese Faktoren wirken zusammen und beeinflussen das psychische Wohlbefinden von PWDs, die häufig unter chronischem Stress, Angstzuständen und anhaltender Traurigkeit leiden.
Wie in der Ukraine ist es zentral, Risikofaktoren für psychische Störungen früh zu erkennen und geeignete Massnahmen zu ergreifen. Dies kann dazu beitragen, die allgemeine Gesundheit zu verbessern, langfristige Schäden zu verhindern und die Belastung des Gesundheitssystems zu verringern.
Viele Betroffene sind ängstlich, fühlen sich sozial isoliert und haben wenig Selbstvertrauen. Zu diesen Herausforderungen kommen in der Gesellschaft weit verbreitete Missverständnisse und Vorurteile betreffend Behinderungen und psychische Gesundheit hinzu. Beispielsweise besteht die falsche Vorstellung, dass Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Leiden „verrückt” sind, was dazu führen kann, dass sich diese Menschen zurückziehen, um einer Stigmatisierung zu entgehen.
Die finanzielle Belastung ist ein weiteres grosses Problem, da die Kosten für Behandlung, Medikamente, Rehabilitation, Transport und den Lebensunterhalt hoch sind. Darüber hinaus fehlt es oft das Wissen und die Fähigkeiten, die für eine effektive Pflege erforderlich sind.
Um den Betroffenen dringend benötigte Erleichterung zu bringen, arbeiten wir seit Ende 2024 mit unserer Partnerorganisation ACDC («Action to the Community Development Institute») zusammen. Die Projektarbeit umfasst vielfältige Massnahmen.
Schulungen: In diesen eignen sich lokale Gesundheitsfachkräfte, z.T. selbst PWDs, ein umfassendes Verständnis der psychischen Gesundheit und der psychologischen Bedürfnisse von PWDs an. Sie erwerben die notwendigen Fähigkeiten, um Betroffene psychologisch unterstützen und beraten zu können. Darüber hinaus lernen sie, Screening-Instrumente einzusetzen, um Menschen mit Behinderungen und ihre Familienangehörigen zu identifizieren, die möglicherweise mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Schliesslich werden die Teilnehmenden in die Lage versetzt, Gruppensitzungen zur Förderung und Unterstützung von PWDs zu leiten. Die Peer-Beratung ist besonders wertvoll, da selbst Betroffene sich am besten in die Situation von PWDs einfühlen können.
Umfassende Zusammenarbeit: Viele weitere Partner wirken in der Projektarbeit mit: das Gesundheitsministerium der Provinz, die Provinzorganisation für PWDs, das allgemeine Krankenhaus, das Provinzzentrum für Krankheitskontrolle, Bezirksgesundheitszentren im Projektgebiet, eine multidisziplinäre Gruppe zur Unterstützung der psychischen Gesundheit sowie Psychologie-Expertinnen und -Experten.
Screening & Bewertung psychischer Erkrankungen von Menschen mit Behinderungen und ihren Familien: PWDs und ihre Familienangehörigen werden von geschulten Fachkräften im Hinblick auf psychische Erkrankungen untersucht, zuerst im Rahmen eines vorläufigen Screenings (Stufe 1), anschliessend erfolgt ein detailliertes Screening (Stufe 2). Daraus werden wertvolle Erkenntnisse für die psychologische Unterstützung gewonnen.
Beratung & Förderung: In Selbsthilfegruppensitzungen, die von den geschulten Fachkräften geleitet werden, tauschen sich Betroffene in einer sicheren Umgebung über ihre Erfahrungen und Herausforderungen im Alltag aus. Sie werden für ihre psychische Gesundheit sensibilisiert und dazu ermutigt, ihre Emotionen auszudrücken und damit besser umzugehen, Stress zu reduzieren, erfolgreicher zu kommunizieren und soziale Kontakte zu pflegen. Zudem erarbeiten sie Bewältigungsstrategien für ihre individuellen Herausforderungen. In schweren Fällen psychischer Erkrankungen werden sie an spezialisierte Behandlungseinrichtungen überwiesen.
Öffentlichkeitsarbeit: Mittels Veranstaltungen werden PWDs und ihre Familien sowie die Öffentlichkeit im Allgemeinen für das Thema psychische Gesundheit von PWDs sensibilisiert. Die erste Veranstaltung ist für Ende Oktober 2025 geplant. Es werden grundlegende Kenntnisse über psychische Gesundheit und Selbsthilfe vermittelt. Zudem werden Möglichkeiten für Interaktion, Erfahrungsaustausch, gegenseitige Ermutigung und emotionalen Beistand geschaffen. Damit sollen wiederum der Zusammenhalt in der Gesellschaft gefördert und Unterstützungsnetzwerke gestärkt werden.
Resultate & Kennzahlen der GCCH-Projekte im Bereich der psychologischen Unterstützung (Stand: Ende September 2025):
Ukraine (seit Anfang 2024):
- Standort Tschernihiw: Psychologische Betreuung von 488 Kindern
- Standort Cherson: Psychologische Betreuung von 16 Kindern
- Standort Sosnyzja: Psychologische Betreuung von 160 Kindern
- Standort Nowhorod-Siwerskyi: Gruppentherapie mit 122 Jugendlichen und 228 Erwachsenen sowie Einzeltherapie mit 5 Kindern, 21 Jugendlichen und 58 Erwachsenen
Vietnam (seit Ende 2024):
- Ende 2024-Anfang 2025: In einem «Training of Trainers»-Kurs wurden vier Menschen mit Behinderungen zu Peer-Berater:innen ausgebildet. Dadurch werden sie in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zahlreiche andere Betroffene wirksam unterstützen können. Durch die anschliessende Peer-Beratung erhielten 20 Betroffene individuelle Unterstützung. Es besteht weiterhin Kontakt, um bei Fragen oder Problemen Unterstützung zu bieten.
- 2025 (laufend): Peer-Beratung in Selbsthilfegruppen und individuell mit bisher 58 Personen
- Mai 2025: Fachtreffen mit den obengenannten Akteuren des Gesundheitswesens, u.a. zwecks Verabschiedung des Projektumsetzungsplans.
- Juli/August 2025: Zwei aufeinanderfolgende Schulungen mit 70 Teilnehmenden, darunter Peer-Berater:innen (PWDs), Dorfgesundheitshelfer:innen und Vertreter:innen der multidisziplinären Gruppe zur Unterstützung der psychischen Gesundheit (Vertreter:innen des Provinzzentrums für Krankheitskontrolle, des Provinzkrankenhauses, der medizinischen Hochschule, des Dorfgesundheitsvereins und der Schule für Kinder mit Behinderungen)
- September 2025: Detailliertes Screening im Hinblick auf psychische Erkrankungen bei 90 PWDs und ihren Familien. Darauf aufbauend wird voraussichtlich im November 2025 ein Handbuch für die psychologische Unterstützung fertiggestellt.
Quellen:
- https://www.ipsos.com/de-ch/axa-mind-health-report-die-psychische-gesundheit-verschlechtert-sich-weltweit-weiter
- https://www.who.int/news/item/02-09-2025-over-a-billion-people-living-with-mental-health-conditions-services-require-urgent-scale-up
- https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/-/2024-kinder-in-konflikten/369196